Mit
verschwommenem Blick starrte sie zu den Sternen hinauf, die hell am klaren
Himmel standen, so als könne nichts jemals die Ruhe stören, welche sie
ausstrahlten. Doch es war bereits geschehen. Seltsam lautlos und verstohlen.
Eine
einzige Nachricht, ein einziger Befehl hatte ihr Leben verändert, es ihr gar
gestohlen, ehe man es ihr wahrhaftig genommen hatte.
Der
Krieg stand bevor.
Ein
Krieg, in welchem man sie zwang in der ersten Reihe zu kämpfen. Wie Bauern in
einem Schachspiel schickte man sie auf das Feld, um von den richtigen Kriegern
abzulenken und die Gegner eine Weile lang aufzuhalten.
„Wir
müssen weiter.“ Die leise, ermahnende Stimme ihres Bruders ließ sie herumfahren
und erneut einen Fuß vor den anderen setzen. Ihre Schritte waren schwer vor
Wehmut und Angst, die sie beinahe lähmte.
Der
kleine Junge in ihren Armen schlief friedlich lächelnd, hatte die Hände zu
lockeren Fäustchen geballt, die an ihrem Körper ruhten. Er wusste nicht, was
ihnen allen bevorstand. Er hatte keine Ahnung, dass seine Mutter ihn für immer
verlassen würde.
Tränen
tropften von ihrem Kinn und benetzten die zarte Haut seiner rosigen Wangen, die
sie bald ein letztes Mal küssen würde.
„Soll
ich dich begleiten, Farah?“, hakte Hector heiser nach, als sie an der
Wegkreuzung angekommen waren, doch sie schüttelte den Kopf.
„Ich
möchte alleine gehen.“, murmelte sie tonlos.
Ihr
Bruder nickte, beugte sich zu seinem Neffen hinab und küsste ihm sachte die
Stirn. „Auf Wiedersehen, Kenneth.“
Als
er sich erneut aufrichtete, begegnete sie seinem besorgten Blick und er drückte
seine Lippen an ihre tränennasse Wange.
„Ich
warte hinter dem Hügel auf dich.“, flüsterte er dicht an ihrem Ohr.
Ihr
schwaches Nicken musste ihm als Antwort genügen.
Ihre
Wege trennten sich einen Moment später und sie fand sich alleine auf dem
Kiespfad wieder, um sie herum nur die Nacht.
Die
Steine knirschten unter ihren Schuhsohlen. Es war das einzige Geräusch, neben
den leisen Atemzügen ihres Kindes, welches sie wahrnahm.
Ihre
Gedanken kreisten – wie so oft – um den Mann, zu welchem sie Kenneth bringen
würde. Zu seinem Vater, der noch nicht einmal von der Existenz seines Sohnes
wusste, doch er würde sich gut um diesen kümmern.
Davon
war sie fest überzeugt und aus diesem Grund war dies der einzige Ort, an
welchem sie ihren Jungen in Sicherheit wusste. Es war ein schwacher Trost, doch
zumindest war es einer, konnte sie doch sonst keinen finden.
Nun
wünschte sie, sie hätte ihrem einstigen Liebhaber früher von ihrem gemeinsamen
Kind erzählt und ihm die Chance gegeben, dessen Vater zu sein.
Doch
das schmerzliche Gefühl, nicht in sein Leben zu gehören, kein Teil von der
Familie zu sein, die ihm alles bedeutete, hatte es verhindert.
Er
hatte sie nicht geliebt, das hatte er auch niemals versprochen, und sie… hatte
ihn nicht geliebt. Doch er würde ohne Zweifel seinen Sohn lieben.
Leichter,
sanfter Regen fiel auf sie herab und sie hüllte den kleinen Jungen in ihren
Mantel, den sie über ihrem Magdkleid trug, um ihn davor zu schützen.
Im
Schlaf murmelte er einige Laute, die man noch nicht richtig verstehen konnte
und brachte sie damit zum Lächeln.
Eines
Tages würde er ein erwachsener, stattlicher Mann sein, der mit seinem
unwiderstehlichen Charme den Mädchen die Köpfe verdrehte, das wusste sie
bereits jetzt. Einem verführerischen Charme, der es einem schwer machte, hinter
die Fassade zu blicken und einen viel zu spät erkennen lassen würde, dass sein Herz
längst einer anderen Frau gehörte.
Kenneth
würde sein wie sein Vater und er würde aussehen wie sein Vater. Er würde seine
Mutter nie gekannt haben.
Eine
harte Erkenntnis, welche den heftigen Schmerz in ihrem Inneren noch stechender
werden ließ.
Das
Einzige, das sie ihm hinterlassen konnte, um ihr eines Tages etwas näher zu
sein, waren ihre alten Tagebücher, die Zeichnungen, die ein verarmter Künstler
gegen ein paar Kupfermünzen von ihr angefertigt, und ein langer Brief, welchen
sie für ihn verfasst hatte.
Er
sollte irgendwann verstehen, weshalb sie nicht bei ihm war und niemals das
Gefühl haben, sie habe ihn im Stich gelassen, ohne dass es ihr dabei das Herz
zerrissen hätte.
Der
Mond warf sein fahles Licht auf das schmiedeeiserne Tor, an welchem die halb ineinander
verschlungenen Buchstaben T und W prangten.
Der
riesige Hof, den sie nur aus seinen bildhaften Beschreibungen kannte, lag nun
vor ihr und sie schluckte hart, während sie sich anschickte, sich schleichend
entlang den Wänden der Stallungen vorzukämpfen. Bis zum Wohngebäude, welches
selbst in der Finsternis prächtig anmutete.
In
einem der vielen Fenster brannte noch Licht, deshalb war es umso wichtiger,
vorsichtig zu sein. Sie wollte nicht entdeckt werden, weder von ihm noch von
seiner Familie.
Ihre
Finger glitten sachte durch das dichte, dunkle Haar ihres Jungen, ihre Lippen
liebkosten die zarte Haut seiner Wangen, streiften seine Lippen, die zu einem
lieblichen Lächeln verzogen waren. Ihre Arme pressten seinen kleinen Körper an
den ihren. Für ein letztes Mal, ein allerletztes Mal, welches sie niemals
vergessen würde. „Ich liebe dich, Kenneth. Vergiss das niemals.“
Vorsichtig
bettete sie ihn, in seine Decke gewickelt, auf die oberste Stufe des Einganges,
legte ihre Tasche daneben und küsste ihn auf die Nasenspitze.
Eilig
wandte sie sich von ihm ab, konnte dabei kaum atmen, da sie ihr Schluchzen
zurückhalten musste, um niemanden auf sich aufmerksam zu machen. Ihre geballte
Faust klopfte heftig an die Türe, ehe sie hastig davonlief, um sich aus
sicherer Entfernung zu vergewissern, dass man Kenneth aus der Kälte der Nacht
ins Haus holte. Der Heuboden diente ihr als Versteck, von welchem aus sie alles
beobachten konnte.
Unregelmäßig
atmend, eine Hand vor den Mund gelegt, verweilte sie dort.
Jemand
trat aus dem Haus.
Eine
junge, hochschwangere Frau mit langem, nachtschwarzem Haar und Farah wusste,
ohne darüber nachdenken zu müssen, wer sie war.
Diese
flüsterte einige unverständliche Worte, ehe sie sich zu dem, immer noch
schlafenden, Kenneth hinabbeugte und ihn behutsam hochnahm.
Ein
älterer Mann erschien hinter ihr auf der Schwelle. „Wer war das, Liebste?“
Statt
ihm eine Antwort zu geben, wandte sie sich zu ihm um, gab ihm somit die
Möglichkeit verwundert auf das fremde Kind in ihren Armen zu starren und wies
ihn dann leise an: „Würdest du bitte Keith holen?“
Ihrer
Bitte wurde sogleich Folge geleistet, während sie einige Schritte in den Hof
hinaustrat, um sich suchend umzusehen.
Farah
hielt für einige Momente die Luft an, als könne sie auf diese Weise diesen stechenden
Blicken entgehen, die nun auch in ihre Richtung führten.
Unvermittelt
stürmte Keith aus dem Haus und sein Anblick ließ sie in einem erneuten
Weinkrampf erbeben, dessen Geräusche sie mühsam dämpfen musste. Nachdem er eine
Weile ungläubig seinen Sohn betrachtet hatte, raufte er sich das dichte,
schwarze Haar und murmelte zu ihrem Erstaunen ihren Namen. Er hatte sie nicht
vergessen und er ahnte gar, dass es ihr Kind war.
„Der
Krieg. Du musst sie suchen.“ Ihre drängende Stimme schien ihn aus seiner Starre
zu holen und er erwiderte ihren Blick, der sorgenvoll anmutete.
„Bei
Gott, ich muss sie finden.“, brachte Keith atemlos hervor und lief in den
Stall, aus welchem er ein dunkles Pferd holte, auf dessen ungesattelten Rücken
er sich schwang. Ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, als er in die
Nacht hinaus galoppierte. Anstatt ihm nachzusehen, bis er in der Dunkelheit
verschwunden war, hätte sie die Augen schließen sollen, um sich nicht
eingestehen zu müssen, dass sie ihn doch geliebt hatte…
Dass
er nach ihr suchen würde, damit hatte sie nicht gerechnet und die Tatsache,
dass es nun geschah, ließ einen Funken der Hoffnung in ihr aufflackern.
Hoffnung, dass er sie hier bei sich behalten und verstecken würde, vor den
Leuten, welche sie in den Krieg zwangen.
Wenn
sie ihm nur gestattete, sie zu finden.
Für
die Zeit eines kurzen Lächelns erlaubte sie sich, daran zu glauben, ehe sie
sich von der bitteren Realität einholen ließ. Es war sinnlos sich zu
verstecken, denn man würde sie mit Gewalt fortholen.
Dies
zu erleben und mitansehen zu müssen wäre viel schlimmer für sie alle, als es
gleich hinter sich zu bringen und auf diese Weise Lebewohl zu sagen…
©
2014 by Temper R. Haring
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